Vom Wollen und Wagen

Die Zeit hastet an mir vorbei, während ich am Wegesrand stehe, mir den Schweiß von der Stirn wische und mit einem Auge zurück und dem anderen voraus blicke. Das wäre wohl die passendste Zustandsbeschreibung meiner jetzigen Situation. Wie sieht es mit meiner Vorbereitung aus werden sich viele von Euch fragen.

In wenigen Tagen machen ich und meine Mitfreiwilligen uns ein letztes Mal vor unserer Abreise auf den Weg nach Nürnberg.

Fünf Tage werden wir von unseren engagierten  Referenten auf unser FSJ vorbereitet,  gemeinsam Gedanken und Sorgen austauschen und uns in einer Abschlussfeier und einem Gottesdienst verabschieden.

Die letzten und die kommenden Wochen erscheinen mir wie ein Pflasterweg aus Abschieden, auf dem ich die Stationen meines bisherigen Lebens Revue passieren lasse. Lehrer, Mitschüler, Familienmitglieder, mein Lieblingsort, die abgewetzte und wackelige Kinderschaukel unter unserem Lindenbaum, von der ich nachts auf die funkelnden Nadeln am Firmament starre und im Tageslicht an den Wogen der hüfthohen Gräser klebe – lang Vertrautes bricht weg.

Wir sind die Generation, der die Welt offensteht und deren Möglichkeiten mannigfaltiger sind als je vorher – unsere Grenzen setzen wir uns selbst, existieren einzig als Blockade in unserem Innern.

Dennoch beginnt die überwiegende Zahl meines Umfeldes sofort zu studieren – eine Einstellung, die ich einerseits bewundere (ich könnte das nach 12 Jahren Schule nicht), auf der anderen Seite kritisch hinterfrage.

Keine Jugend war mehr auf Sicherheit und den ach so berüchtigten  Lebenslauf ohne Lücke bedacht.

Es geht gar nicht darum, dass wir alle das große Abenteuer erleben oder uns als Weltretter aufspielen.

Der Punkt, den ich vermisse, ist die Bereitschaft, sich ein Jahr mit sich selbst auseinander zu setzen, dem Stress des Bildungssystems zu entkommen und eigene Normen zu hinterfragen.

Erzähle ich von meinem Plänen, schwappt mir eine Welle von Skepsis und Unverständnis entgegen.

Auf die Gefahr hin, mich auf das Niveau austauschbarer Binsenweisheiten herabzulassen, muss ich für mich persönlich feststellen, dass Fehler oder das Risiko, diese zu begehen, stets wegweisend waren.

Regret for the things we did can be tempered by time; it is regret for the things we did not do that is inconsolable. 

Es lohnt sich stets, Fragen zu stellen und zu zweifeln.

Passt mein derzeitiges Leben zu mir? Bin ich so glücklich? Stimme ich mit dem Wertesystem, das mir von der Schule und Gesellschaft vermittelt wurde, überein? Brauche ich den ganzen Krempel, der mir tagtäglich von Werbeikonen für meinen  No-Make-up-Look aufgeschwatzt wird, tatsächlich? 

Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, würde ich  diese Fragen für mich größtenteils mit Nein beantworten – sonst würde dieser Blog nicht existieren. Gleichzeitig kann ich mir diese Fragen nur stellen, weil ich zufällig in einem reichen Land des globalen Nordens geboren wurde.

Die individuelle Frage nach der richtigen Art zu leben ist bei aller Berechtigung ein Luxusproblem unser mit Chancen überhäuften Generation.

Dennoch möchte ich diese Chance nutzen.

In einem Buch über Hospizarbeit habe ich diese wunderschönen Zeilen meines Lieblingsdichters Rainer Maria Rilke gefunden. Rilke war leidenschaftlicher Verfasser von Briefen und teilte seinem Freund und Jungspund Franz Xaver Kappus mit blumigen Worten seine Erkenntnisse zur Geduld mit.


"Man muss den Dingen die eigene stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt und beschleunigt werden kann.

Alles ist auszutragen und dann zu gebären.

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt zu den Geduldigen, die da sind als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit.

 

Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und Bücher, die in einer anderen Sprache geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Frage lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein."


Da es mir leider nicht möglich war, für einen kurzen Zeitraum noch einen Praktikumsplatz in einem Hospiz zu bekommen, habe ich mich mental mit dem Tabuthema Tod auseinandergesetzt, das in unserer Gesellschaft leider noch immer marginalisiert wird.

Deswegen möchte ich auch euch, liebe Leserinnen und Leser, einige Fragen mitgeben, die ich als wertvoll erlebt habe und die euch dieser sensiblen Thematik näher bringen.


Wie reagiere ich auf Lebensumstände, die außerhalb meines Einflusses sind? Wie fühlt sich Kontrollverlust an und warum habe ich so eine Angst davor?

Wie viele kleine Tode bin ich schon gestorben? Welche Abschiede haben mein Leben erschüttert?

Welche Sorgen und Wünsche habe ich für den Herbst meines Lebens?

Was könnte meinem Leben einen Sinn geben, wenn ich nicht mehr für mich selbst sorgen kann und materielle Dinge ihren Wert verloren haben?

Was werde ich vor meinem Tod bereuen? Die Fehler, die ich begangen oder die Möglichkeiten, die ich verstreichen habe lassen? 

Was würde ich von meinen Mitmenschen in dieser Situation erwarten?


Vielleicht findet ihr in eurem stressigen Alltag ein paar stille Minuten, in denen ihr eure Gedanken schweifen lasst.


Bis bald,

Eure Pauline